h) Das Sein und das Nichts

Themen dieses Kapitels:


Das Sein und das Nichts

Warum Seiendes?
Es wurde darauf hingewiesen, dass das Hauptthema der Sitzung die Frage nach dem Sinn der Weltgeschichte sei. In diesem Zusammenhang wurde am Ende der letzten Sitzung auf die radikale Grundfrage allen Philosophierens aufmerksam gemacht: „Warum überhaupt Seiendes und nicht Nichts“? Dies ist die Sinnfrage par excellence, denn sie stellt die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Man hielt es deshalb für sinnvoll, auf die Frage einzugehen. Zu den unmittelbaren Feststellungen eines jeden Menschen gehört die Tatsache, dass er nicht die Ursache bzw. die Quelle seines Seins (Daseins) ist. Ist dies „Zufall oder Notwendigkeit“? Dies ist eine Seinsfrage. Der Begriff „Sein“ ist der allgemeinste bzw. der vieldeutigste Begriff überhaupt. Man denke an die Begriffspaare: Sein –Nichts, Sein – Schein, Sein – Dasein. Dennoch: mitten im Sein sind wir mit dem Nichts beschäftigt. Sobald wir sagen, dass etwas ist, sagen wir, was es nicht ist (Heidegger: das Nichts ist der Schleier des Seins). Das Menschsein bedeutet deshalb In - der –Welt – sein bzw. Für – die - Welt – Sein. Was ist aber der Sinn vom Sein?

Der Sinn vom Sein - der Sinn des Lebens und des Todes

Man muss nach dem Sinn des „Ganzen“ fragen. Dies bedeutet, dass wir nach der Geschichte des Menschen fragen müssen, denn der Mensch lebt in der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Zeitlichkeit).. Die Zeitlichkeit des Menschen ist begrenzt: durch den Tod. Jede Frage nach dem Sinn des Lebens ist gleichzeitig eine Frage nach dem Sinn des Todes. Aber wie versuchen wir unserem Leben einen Sinn zu geben? Anhand von zwei Zeitungsanzeigen in Sache Partnersuche und eine Aussage einer Krankenschwester wurde festgestellt, dass Menschen nach Liebe suchen und auch nach sinnstiftenden Tätigkeiten. Haben wir nicht etwas vergessen, nämlich, dass viele derartige Bemühungen auch scheitern bzw. vom Scheitern bedroht sind? Wenn wir in der Gesellschaft herumschauen, werden wir bald feststellen, dass viele Partnersuchen scheitern. Dies ist beileibe nicht die schlimmste Form des Scheiterns. Es gibt viele Alleinstehende, Kranke, Arme, Schwache, Machtlose. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist gleichzeitig die Frage nach dem Sinn des Scheiterns und des Leidens. Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte des Lebens, des Leidens und des Sterbens. Das ist das „Ganze“. Danach fragen wir, wenn wir nach dem Sinn der Weltgeschichte fragen. Dies ist auch die Frage nach dem Sinn vom Sein.

Der Sinn der Weltgeschichte

Die Antworten auf die oben genannten Fragen müssten auch Antworten auf die Frage nach der Überwindung des Leidens und des Todes implizieren. Kann die Antwort aber außerhalb der Weltgeschichte liegen (Stichwort: Transzendenz), wie manche Religionen behaupten?
Wir warfen einen Blick auf die Antworten der Religionen diverser Kulturen.
Juden, Christen und Muslime, wie wir wissen, vertreten ein lineares Geschichtsverständnis und finden den Sinn der Weltgeschichte außerhalb der Grenzen von Raum und Zeit, in der ewigen Glückserfüllung (Stichwort: Himmel). Das menschliche Leiden wird in der Regel auf Verfehlungen (Stichwort: Sünde) zurückgeführt, die eines Erlösers bedürfen.
Hindus und Buddhisten (und mittlerweile nicht wenige Menschen aus anderen Kulturkreisen) gehen davon aus, dass die Weltgeschichte weder Anfang noch Ende hat. Geburt, Leiden und Sterben des heutigen Lebens hängen unmittelbar mit den Ereignissen eines vergangenen Lebens und infolgedessen eines künftigen Lebens zusammen. Der Sinn der Weltgeschichte ist die Befreiung aus dem Kreislauf.
Beiden Geschichtsverständnissen liegt ein gewisses Menschenbild zugrunde, das den Weg nach einem vollendeten Menschsein (das „Zu – Sich –Selbst – Kommen“) sucht, und .weiß, dass dies nur durch eine innere Befreiung des Menschen möglich ist, denn der Kern der Vollendung liegt in der Freiheit.



Karl Potter : „Was können wir tun? Die Sichtweise eines kritischen Rationalisten. Bereits am Anfang der Sitzung zeigten die ersten Stellungnahmen zum Hauptthema, dass einige der Anwesenden sich mit Potters Überlegungen beschäftigt hatten. Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass die Karmalehre eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Leidens darstellt. Es handelt sich um die Lebensumstände in der Gesellschaft Da die von Potter gestellte Frage allesamt mit unserem Anliegen zu tun hat, wendeten wir uns seinen Ausführungen zu.

Was können wir tun?
Potter weist darauf hin, dass ein Rationalist sich bewusst ist, dass wir nicht alles wissen können. Bei einer Urteilsfindung müssen wir zuerst „immer beide Seiten hören“, aber zweitens, niemals Richter in der eigenen Sache sein. Im Umgang miteinander sollen wir immer vernünftig sein, um Gewalt zu vermeiden. Potter räumt ein, dass der Mensch nicht vollkommen rational sein kann. Andererseits ist er gegen eine Überbetonung der Irrationalität. Er meine nur: im menschlichen Verhalten soll eine vernünftige Haltung niemals fehlen.

Über Vernunft und Liebe
Konnte man bislang den Ansichten Potters durchaus zustimmen, so wurde der Meinungs-austausch erst rege als Potter bemerkte, die vernünftige Haltung soll auch in Beziehungen nicht fehlen, sicher nicht in der Liebe. Es lag auf der Hand, dass man klären müsste, was man unter „Vernunft“ und „Liebe“ zu verstehen habe. Dies ist von dem jeweiligen Menschenbild abhängig. Dennoch: lässt es sich ohne weiteres bestimmen, wie man sich in einer Liebesbeziehung vernünftig verhält? Was könnte man z. b. Romeo und Julia anraten? Oder das berühmte Liebespaar des europäischen Mittelalters: Heloise und Abelard? Ist die Entscheidung eines Menschen, am Hindukush Deutschland zu verteidigen, weil sie bzw. er Familie und Vaterland liebt, nicht trotz der Gefahr des Sterbens vernünftig? Übrigens: Liebesgeschichten sind von Leidensgeschichten kaum zu trennen. In einer Ehe kann die (zeitwillige) Enthaltsamkeit auch sehr vernünftig sein! Es wurde darauf hingewiesen, dass es heute wie nie zuvor viele Möglichkeiten gibt, sich vernünftig und liebevoll zu verhalten (und nicht nur in Bezug auf Kondombenutzung). Philosophisch müsste man m. E. sagen: Liebe und Vernunft schließen sich nicht aus. Vernunft gehört zur Liebe – Liebe ist ein inneres Moment der Vernunft.

Das konkrete Leben und abstrakte Ideale
Potter ist der Meinung, wir sollten konkrete Missstände beseitigen und nicht versuchen, abstrakte Ideale zu verwirklichen. Es wurde von mehreren Seiten die Meinung vertreten, dass abstrakte Ideale bald in Ideologie ausarten können. Es geht dennoch nicht um die Ideale an sich, sondern darum, wie sie umgesetzt werden. Kommunistische Parteien in Europa haben hohe Ideale (ein Paradies auf Erden). Die strengdogmatische und gewaltsame Umsetzung ist kaum annehmbar. Aber ist ein sinnvolles („vernünftiges“) Leben ohne jegliche Ideale möglich? Gehört es nicht zum Menschsein schlechthin, dass man die Verwirklichung von Idealen anstrebt? Wer von uns hat nicht erst von dem bzw. der idealen Partner/in geträumt und schließlich tatsächlich gefunden („und they lived happily ever after“)? Eine Nebenbemerkung: den idealen Partner gibt es nur, solange man ihn / sie nicht kennt! Aus Idealvorstellungen sind die schönsten Gedichte der Weltliteratur entstanden. (Beispielsweise Shakespeares „Let me not to the marriage of true minds admit impediments. Love is not Love which alters when it alteration finds“). Ist wahre Liebe nur ein abstraktes Ideal?
Wir waren uns einig, dass Potters Empfehlung, wir sollten ganz konkret an die Arbeit gehen, durchaus richtig ist. Doch ist die Welt heute viel zu kompliziert, um einfache, konkrete Lösungen zuzulassen: z. B. die Frage nach Mindestlöhnen (hier müsste man auch die Verdienste der Gewerkschaften anerkennen) oder die Beseitigung von Ungerechtigkeiten in der Krankenversicherung. Trotz der vielen Hilfsorganisationen für arme Länder sagt man immer noch, dass es lediglich um „einen Tropfen auf den heißen Stein“ geht.

Was getan werden soll und kann
Im letzten Teil des Gesprächs wurde die Hoffnung ausgesprochen, dass es so bald wie nur möglich zu einem echten, ehrlichen Dialog der Demokraten und der politischen Parteien kommt. Sonst setzt sich die Macht der Lobbyisten und Kriminellen durch. Dennoch: ohne Ideale ist ein sinnvolles Leben kaum möglich - das Gegenteil ist Leiden. Kann es sein, dass wir unser Menschenbild genauer unter die Lupe nehmen müssen?






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