Themen dieses Kapitels:

Philosophie – Ausgangspunkt für einen Dialog der Kulturen



Karl Jaspers: Was ist Philosophie?

Kann die Stellungnahme von Jaspers eine Grundlage dafür sein, eine philosophische Anthropologie für den Dialog der Kulturen in einer globalisierten Welt gemeinsam zu entwerfen?


Der Philosoph Karl Jaspers hat darauf aufmerksam gemacht, dass die großen philosophischen Systeme in einer Periode entstanden, die er die „Achsenzeit“ der Weltgeschichte (etwa in der Mitte des ersten Millenniums v. d. Z.) genannt hat. In einem höchst regen Austausch wurde in der Sitzung von verschiedenen Seiten nach Jaspers Verständnis (Was ist Philosophie?) gefragt. Die ersten Fragen bewegten sich um die philosophischen Aussagen bzw. Fragen von Kindern.
Wie lange ist ein Kind ein Kind?
Jaspers erwähnt, dass Kinder gelegentlich spontan gewisse Fragen stellen, die wahrhaft von philosophischer Ursprünglichkeit sind. Zunächst wurden Erinnerungen aus der eigenen Kindheit einiger Teilnehmer wach. Man fragt sich: Ist die Volljährigkeit das Ende der Kindheit? Öfters hört man: ich bin kein Kind mehr! Die Frage nach dem Kindsein hängt mit der Frage des Menschseins zusammen. Aber wie lange ist ein Kind ein Kind? Eine Reihe von Entscheidungen hängen davon ab, z. B. Abtreibungen oder die Erziehung sowie die Zukunft der Kinder. Sind werdende Väter und Mütter immer „erwachsen“? (Es fällt auf, dass keine Qualifikation nötig ist, um Vater oder Mutter zu werden). Man kann Jaspers darin zustimmen, dass Kinder oft von dem „Erstaunen des Daseins….ergriffen“ sind. Sie „besitzen oft eine Genialität, die im Erwachsenwerden verloren geht“.
Zwischendurch wurde von allen Seiten die Aussage bejaht: „Philosophie heißt: auf dem Wege sein“. Da jede Antwort eine neue Frage hervorruft, ist es wichtiger die richtigen Fragen zu stellen als auf befriedigende Antworten zu warten. Denn alle Antworten sind „offen“. Philosophie ist notwendig, um Mensch zu sein: ist der Mensch nicht schlechthin die Offenheit auf das Sein?
Was ist Kindsein?
Einige in der Runde wollten zurück zur Frage nach dem Verständnis von Kindsein. Der Mensch ist Kind bis ins hohe Alter. Es handelt sich dabei nicht darum, ein Kind zu sein, sondern um das kindliche Element im Menschen. Dies spürt der Mensch vor allem in einer Liebesbeziehung (Stichwort: Liebesspiel). Selbst Jesus empfiehlt seinen Jüngern, wie die Kinder zu sein, um in das Reich Gottes zu gelangen. Eine Reihe von kindlichen Eigenschaften wurden genannt: Natürlichkeit, Spontaneität, Begeisterungsfähigkeit. ohne Maske bzw. frei von der Leber weg sprechen. (S. oben) Kindsein ist eine innere Qualität des Menschseins – ohne sie ist der Mensch weniger Mensch. Man muss sie bewahren, um sich selbst zu sein. Dennoch: in den gesellschaftlichen Strukturen heute ist es nicht immer möglich, die kindliche Qualität zu bewahren, z. B. in Betrieben, wo Gewinnmaximierung und Produktionsziele an erster Stelle stehen.
Philosophie und Geisteskrankheit
Jaspers weist darauf hin, dass man ursprüngliches Philosophieren auch bei Geisteskranken findet, z. B. „Kinder und Narren sagen die Wahrheit“. Man spricht auch von „Narrenfreiheit“. An manchen europäischen Höfen (Vgl. Shakespeare) gab es die Institution des Narren. Bekannt ist auch, dass Geisteskranke zu „ metaphysische Offenbarungen erschütternder Art“ fähig sind. Die Geschichte zeigt, dass große philosophische Gedanken bei einzelnen weniger großen Geistern auftauchen.
Sind wir weiter als Platon?
Angesichts der Tatsache, dass philosophisches Denken nicht den Charakter eines Fortschritts-prozesses hat, wurde gefragt, wie Jaspers zu verstehen ist, wenn er meint, „wir dürfen kaum sagen, dass wir weiter seien als Plato“. Zunächst wäre zu betonen, dass der Mensch aus wissenschaftlicher Sicht sicherlich weiter ist als seine Vorfahren. Kann er aber die Frage „was ist der Mensch?“ besser beantworten bzw. den Menschen besser verstehen? Der Streit der Geister ist unausweichlich. Plato hat die ewigen Fragen des Menschen gestellt und seine Ansicht über die Unsterblichkeit der Seele hat das Abendland bis ins 19. Jahrhundert geprägt.
Das Problem ist letztlich vielleicht die Unmessbarkeit der Antworten auf die Grundfragen des Menschen. Es gibt m. E Gründe für die Auffassung, dass der Mensch stets rätselhafter wird!
Andererseits wird das Abenteuer, den Menschen zu verstehen, immer spannender.

„Denkend mit mir selbst“ umgehen - was meint Jaspers?
Anschließend wurde die Diskussion über Jaspers Philosophieverständnis fortgesetzt. Wie kann man die Formel verstehen: „die Wirklichkeit ergreifen durch die Weise, wie ich denkend mit mir selbst umgehe, im inneren Handeln“ (S. 15). Zu den zahlreichen Äußerungen gehörten u. a.: a. die Wirklichkeit ist nicht „da draußen“ – sie fängt dort an, wo ich mit mir selbst umgehe. Die „Wirklichkeit an sich“ ist in mir (bei mir?). b. Im Augenblick, in dem ich mir dessen bewusst bin, bin ich Philosoph. Denken mit mir selbst bestimmt mein Handeln, wie ich mit meinem tiefsten Selbst umgehe. Die Inder empfehlen: Yoga (im ursprünglichen Sinne!). c. Denken auszuschalten ist weder menschlich noch philosophisch – es gilt, Denken zu übersteigen (transzendieren), wie wenn man danach fragt, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Darum geht man auch auf Wanderschaft bzw. Pilgerschaft. d. wir alle sind Philosophen, denn Philosophie ist etwas Grundsätzliches – infolgedessen, müsste man Erzieherinnen und Grundschullehrer/innen in Philosophie ausbilden. Das bewusste Umgehen „mit mir selbst“ wird mir in die Wiege gelegt. Das bewusste Umgehen mit der Wirklichkeit fängt „mit der Muttermilch“ an (nach neueren Erkenntnissen, haben wir selbst im Mutterleib vieles wahrnehmen können). e. es wäre dennoch im Sinne Jaspers zu betonen, dass der Selbstfindungsprozess im Augenblick beginnt, in dem man sich dessen bewusst ist, dass man denkt.

Die Frage nach einem neuen Menschenbild für das 21. Jahrhundert.
Diese Frage wurde bereits bei mehreren Satyakama - Sitzungen im vorigen Jahr erörtert, als eine neue Spiritualität für das 21. Jahrhundert zur Sprache kam. Die rasante Globalisierung der Welt heute macht auf dringende Weise aufmerksam, dass der Prozess in der Richtung eines völlig neuen Menschenbildes bereits im Gange ist. Dies kann man sofort erkennen, wenn man an das traditionelle Menschenbild (z. B. unserer Großeltern) denkt.
Am Eindeutigsten ist z. B. das Denken über Abtreibung, die früher schlicht „Mord“ genannt wurde. Aber wann fängt menschliches Leben an? Wann ist ein Mensch ein Mensch?
Dies bringt uns zurück zur Grundfrage: Was ist der Mensch (Kant)? Man redet über die Ratlosigkeit der „Jugend“ – muss man eher nicht sagen: die Gesellschaft ist ratlos?
Auch über das Beenden des eigenen Lebens denkt man anders heute - man nennt es Freitod (z. B. Hannelore Kohl) und nicht Selbstmord. Zu erwähnen sind auch Fragen der aktiven bzw. passiven Sterbehilfe.

Die Veränderungen im Menschenbild: einige Beispiele
Das Denken über das neue Menschenbild ist nicht nur aus marktwirtschaftlichen Gründen nötig (der Exportweltmeister versucht Inder und Chinesen zu verstehen!) sondern in erster Linie deshalb, weil wir mancherlei Veränderung gar nicht richtig verstehen. Das beste Beispiel: die Gentechnologie. Wie viele unter uns können sich „kompetent“ dazu äußern? Doch ist man dabei, nicht nur Kartoffel zu manipulieren, sondern auch menschliche Gene. Wo liegen die Grenzen? Auch Fragen der Hirnforschung und der Molekularbiologie werfen ethische Fragen auf: verfügt der Mensch über einen freien Willen? Wird das alte Menschenbild nicht grundsätzlich in Frage gestellt? Denn heute kann der Mensch sich selbst verändern bzw. manipulieren. Man redet davon, dass wir in der Zeit „post Dolly creatam“, d.h. der geklonte Mensch (homo clonatus), leben.

Ein Blick in die Kulturgeschichte
Die Zeit, in der wir uns befinden (und die langsam - vor unseren Augen - zu Ende geht), hat man (was westliche Gesellschaften betrifft) als „christlich – (kantianisch) – humanistisch“ bezeichnet. Bis ins 20. Jahrhundert kann man sagen, herrschte das dualistische Menschenbild nicht nur in Europa sondern auch in den diversen Weltreligionen. Die ersten Aussagen über den Menschen - an - sich wurden bereits in den alten Hochkulturen formuliert. Es wäre sicherlich aufschlussreich, einen Blick in die Kulturgeschichte zu werfen: z. B. Antigone über die Ungeheuerlichkeit des Menschen, die Platoniker über den Menschen als das Maß aller Dinge, Genesis: Gott schuf den Menschen als Mann und Frau, die Schöpfungshymne des Rigveda (was weiß der Mensch?), der stets leidende Mensch der Buddhisten. Das Menschen-bild der Konfuzianer und Daoisten dürfte besonders spannend für uns sein: ist die Harmonie von Mensch, Himmel und Erde ein Bild, das uns alle inspirieren kann? Vielleicht kann ein kurzer Gang durch die Kulturgeschichte uns helfen, die Frage zu beantworten: wie können wir unser heutiges Menschenbild beschreiben?




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h) Das Sein und das Nichts
j) Was ist der Mensch